"Normale Reaktionen auf ein unnormales Ereignis - Reaktionen und Spätfolgen nach sexuellen Übergriffen""

Sexuelle Übergriffe hinterlassen seelische Narben
Oft leiden die Betroffenen sehr unter den Folgen eines sexuellen Übergriffs [1]

Sexueller Missbrauch ist leider ein Thema, das immer aktuell und wichtig ist. Die Betroffenen leider oft jahrzehntelang unter den Spätfolgen ohne überhaupt zu wissen, dass ihre Reaktionen "normale" Reaktionen auf ein "unnormales" Ereignis sind.

Zu erkennen, dass der eigene Körper und die Seele normal und richtig reagieren und reagiert haben, bringt in der Regel große Erleichterung.

Ich persönlich habe aus dem englisch- und norwegischsprachigen Raum die Intention übernommen, von „Übergriffen“ anstatt von „Missbrauch“ und von „Überlebenden“ anstatt von „Opfern“ zu sprechen. Der Begriff „sexuelle Übergriffe“ umfasst alle sexuellen übergriffigen Handlungen, unabhängig davon, ob sie im Kindes- oder Erwachsenenalter geschahen. Des weiteren wird diese Wortwahl meiner Meinung nach den Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, besser gerecht und vermittelt zugleich den Blick nach Vorne: Der Betroffene erfährt Motivation das Geschehene abzuschließen und seinen Fokus auf das Leben nach dem Übergriff zu richten. Sicherlich benötigen einige Menschen Zeit und eventuell Unterstützung dabei, das Erlebte hinter sich zu lassen. Wichtig ist mir zu betonen, dass man als Überlebender ein gutes Leben nach dem Übergriff führen kann.

Mein Text soll also Mut machen, sich, sofern das Erlebte belastet, die passende Hilfe zu suchen und den eigenen Heilungsweg voller Zuversicht zu gehen.
Der Einfachheit halber verwende ich im Text die maskuline Form von Substantiven, meine damit aber natürlich Frauen, Männer und Intersexuelle gleichermaßen. Aufgrund der Komplexität des Themas sollen die nachfolgenden Informationen einen Einblick und ein gewisses Verständnis vermitteln ohne allerdings Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Zahlen:
Das Vorkommen von sexuellen Übergriffen schätzt die WHO mit 10-20% bei Frauen, und 5-10% bei Männern ein (über Intersexuelle liegen mir keine Zahlen vor). Eine neuere Studie in Norwegen fand heraus, dass 29% der Mädchen zwischen 18-19 Jahren einem sexuellen Übergriff, sprich mindestens einer sexuellen Beleidigung ausgesetzt waren. Bezüglich der Statistik gibt es einige nationale Unterschiede, dies hat unter anderem mit der unterschiedlichen Strafgesetzgebung zu tun. So ist beispielsweise die Definition für eine Vergewaltigung in Deutschland wesentlich strenger als in Norwegen (das bedeutet, dass Handlungen, die in Norwegen als Vergewaltigung definiert werden, in Deutschland nicht als Vergewaltigung zählen).
Die meisten Übergriffe werden von Menschen begangen, die der Überlebende gut kennt: Familienmitglieder, Lehrer, Freunde, Partner, Bekannte. Der sog. "Fremde", der einen nachts überfällt, ist statistisch gesehen eine eher geringe Gefahr. Ca. ein Drittel aller Übergriffe wird von Kindern und Jugendlichen begangen. In solchen Fällen spricht man von beiden Beteiligten als Opfer, was die Dringlichkeit unterstreicht beiden Seiten professionelle Hilfe zukommen zu lassen.

Die Erfahrung von sexuellem Übergriff kann zu Reaktionen unterschiedlicher Art führen. All diese Reaktionen sind normale Reaktionen auf ein traumatisches – also ein unnormales –  Ereignis. Manche Reaktionen können nach einiger Zeit nachlassen, andere bleiben bestehen.

Hinsichtlich des Übergriffes ist es schwierig zwischen einem schlimmen und weniger schlimmen Übergriff zu unterscheiden. Es muss besonders auf die Beziehung zwischen dem Täter und dem Opfer eingegangen werden, die Anzahl der Übergriffe, die Anzahl der Täter, Alter usw. Sexuelle Übergriffe sind ein komplexes Thema und das Ausmaß der daraus resultierenden Folgen ist von mehreren Faktoren abhängig, die über die eigentliche Übergriffshandlung hinausreichen.

Durchschnittlich braucht ein Überlebender 17 Jahre, um das erste Mal von dem, was er erlebt zu erzählen. Das ist eine lange Zeit, in der der Betroffene mit dem Erlebten ganz alleine zurecht kommen muss. In den meisten Fällen wird das Brechen des jahrelangen Schweigens als große Erleichterung empfunden. Eine kompetente Reaktion des Umfeldes ist natürlich entscheidend. Aus meiner Arbeit mit den Überlebenden weiß ich, dass es entscheidend ist, zu erfahren, dass einem jemand glaubt. Zuhören und den Überlebenden in seiner Entscheidung zu erzählen zu bestätigen sind Reaktionen, die sich viele Überlebende im Nachhinein von ihrem Umfeld gewünscht hätten.

 

Sexuelle Übergriffe können uns unmittelbar mit einem Schockerlebnis konfrontieren. Des weiteren gibt es eine Reihe von Spätfolgen, die manche Überlebenden noch Jahre bzw. Jahrzehnte nach dem Erlebten aufweisen.

Normale Spätfolgen nach einem erlebten sexuellen Übergriff sind:

  • starke Schuld- und Schamgefühle
  • negatives Selbstbild
  • mangelndes Vertrauen zu anderen
  • soziale Isolation
  • sexuelle Probleme
  • sich pervers fühlen
  • Angst davor haben verrückt zu werden
  • großes Kontrollbedürfnis
  • Probleme mit dem Erleben der eigenen geschlechtlichen Rolle
  • Schmerzzustände
  • psychosomatische Leiden
  • Angst (Phobien, Atemprobleme, Übelkeit, Angst davor zum Zahnarzt zu gehen)
  • Probleme mit Nähe
  • Selbstverletzung
  • Depression
  • Essstörungen
  • Schlafstörungen
  • Gefühl eklig oder dreckig zu sein
  • Bagatellisierung des Übergriffs
  • Probleme damit anderen gegenüber Grenzen zu setzen
  • selbstzerstörerisches Verhalten
  • Suizidalität
  • Tendenz wieder Opfer zu werden
  • aggressives oder übergriffiges Verhalten
  • posttraumatische Belastungsstörung (PTBS / PTSD s. weiter unten)
  • Dissoziation


PTBS / PTSD: Posttraumatische Belastungsstörung

Viele, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder PTSD).
Typische Symptome einer solchen Belastungsstörung sind:

  • Wiedererleben des Traumas (durch Erinnerungen, Bilder und Flashbacks)
  • Vermeidendes Verhalten (man versucht alles zu vermeiden, was an das Trauma erinnert)
  • Taubheit und Depression
  • Albträume
  • Konzentrationsstörungen
  • Schlafstörungen
  • erhöhte Schreckhaftigkeit
  • erhöhte Alarmbereitschaft
  • Unfähigkeit sich an wichtige Aspekte des traumatischen Ereignisses zu erinnern.
  • Die Störung muss innerhalb von 6 Monaten nach dem belastenden Ereignis aufgetreten sein.

Das Erlebte stellt in der Regel eine große Einschränkung im Alltag dar und bedarf einer Therapie oder traumaspezifischen Behandlung.
Welche Art von Hilfe oder gar Therapie für den einzelnen richtig ist, weiß allein der Betroffene selbst. Oft ist der Heilungsweg ein zusammengesetzter, da zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Dinge hilfreich sein können.
Ich kann nur dazu ermutigen, über das Erlebte mit vertrauten Personen und / oder mit Fachleuten zu sprechen. Mittlerweile hat das Thema deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren, sodass auch Berufsgruppen wie z.B. Ärzte, Pflegepersonal oder Lehrer ein größeres Bewusstsein dafür haben und bei Bedarf weiter vermitteln können.
Ich möchte auch all diejenigen, die nicht selbst einem derartigen Erlebnis ausgesetzt waren, dazu ermutigen, über dieses Thema zu sprechen. Je weniger tabubesetzt ein Thema ist, desto leichter ist es für die Betroffenen sich zu öffnen und eventuell um Hilfe zu bitten. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit sexuelle Übergriffe früher bzw. besser aufzudecken, wenn entsprechendes Fachpersonal gut geschult ist. In Norwegen beispielsweise gibt es in einigen Teilen des Landes Projekte an Schulen, die es den Schülern (und Lehrern) erleichtern sollen, über Körper, eigene Grenzen und ihre Sexualität zu sprechen. Derartige Projekte gibt es für unterschiedliche Altersstufen und es wird zum Teil damit im Kindergarten begonnen. Kinder, die keine Wörter haben um eine sexuelle Handlung zu beschreiben, können beispielsweise auch nicht davon erzählen, wenn sie etwas "unnormales" erlebt haben. Es ist also von enormer Wichtigkeit Kindern eine Sprache zu geben, die Sexualität und sexuelle Handlungen mit einschließt: Einerseits um Kinder in ihrer eigenen kindlichen Sexualität zu unterstützen, die völlig normal und gesund ist. Andererseits um Kinder vor Übergriffen zu schützen.
Wie bei so vielem ist Kommunikation entscheidend. Und Kommunikation ist etwas, zu dem wir alle das unsere beitragen können.


Es gibt heutzutage gute Informations- und Hilfsangebote für Überlebende und Interessierte.
https://www.hilfeportal-missbrauch.de/startseite.html  - Dort kann man u.a. nach Beratungsstellen suchen
https://beauftragter-missbrauch.de/hilfe/hilfetelefon/ - Hilfetelefon Sexueller Missbrauch

[1] Bildnachweis: Photo by Volkan Olmez on Unsplash